Der globalisierte Vogel …


Europäische Brieftauben, einst das Hobby der Malocher, machen Karriere.

In China geben Liebhaber und Zocker Hunderttausende Euro für ein Exemplar aus.

„Was man 65 Jahre macht, macht man so lange, bis man die Augen zumacht“, sagt er und geht in seinen Garten, geht in ein Häuschen, das stand, bevor sein Haus stand, in dem er wohnt mit Inge, seiner Frau. Er öffnet die Tür des Häuschens, das man Schlag nennt, hebt die Stimme, sehr sacht, sehr sanft, als spräche er mit einem Kind, spricht Worte, die eher herb sind: „Ja wat denn, ja wat denn?“ Heinz-Willi Ritz begrüßt seine Tauben, und die Tauben gurren und flattern, Heinz-Willi Ritz lacht: „Ja wat denn?“

ritz

Vor 65 Jahren war Ritz ein kleiner Junge, er fuhr mit dem Fahrrad durch die Straßen in Jüchen am Niederrhein, unter der Erde lag Kohle, Tagebau Garzweiler. Heinz-Willi saß auf dem Sattel, und auf die Stange hatte er ein Hühnchen gesetzt, aber er träumte davon, eine Taube zu haben. Tauben, sagt er, wollte er schon immer haben, und da wo Tauben waren, wollte er hin.

Aber Bub, du musst lernen, sagte der Vater, mit Tauben kannst du dich nicht konzentrieren.

Bub, hier hast du ein paar Tauben, sagten Verwandte, und der Junge nahm sie und versteckte sie auf dem Heuboden, er fütterte sie, nur fliegen ließ er sie nicht, denn der Vater sollte ja nichts wissen.

Heinz-Willi Ritz ist nun 76, und inzwischen wissen sogar Menschen in Holland, Belgien, Thailand, Taiwan und China von ihm und seinen Tauben. In Asien, da nennen sie ihn Mister Heinz, den Mann, dessen Tauben über Berge klettern können.

Inge, seine Frau, sagt: „Für die Tauben ging alles Gesparte weg, er brauchte ja nichts, alles war nur für seine Tauben.“

Heinz-Willi sagt: „Wenn ich mal essen ging, dann habe ich mir das Billigste genommen, das Essen für die Tauben war mir nie teuer genug.“

Inge sagt: „Aber wir haben nicht gelitten, erst kriegte ich einen Wohnzimmerschrank, damit ich nicht meckerte, und dann fuhr er nach Belgien.“

Nach Belgien fuhr Heinz-Willi Ritz, weil dort die Brüder Janssen wohnten. Die Familie ließ seit 1884 Tauben fliegen, und man sagte, sie hätte die besten, selbst über den Zweiten Weltkrieg hielt sie 50 am Leben. Ritz sparte, um sich eine Janssen-Taube leisten zu können.

In den Sechzigern holte er eine nach Jüchen, 350 D-Mark.

In den Siebzigern eine weitere, 750 D-Mark.

In den Achtzigern dann, als Ritz hierzulande längst bekannt war und seine Tauben längst begehrt waren, weil sie so gut flogen, war er es, der viele seiner Tauben verkaufte – auch nach Asien. Für eine bekam er 20.000 D-Mark und für eine andere 75.000, viele Jahre lang sei sie die teuerste Taube der Welt gewesen, sagt Ritz.

Inzwischen wurde ein neuer Rekordpreis für eine Taube aus Europa gezahlt: 310.000 Euro gab ein Chinese aus. Die Taube heißt Bolt, benannt nach Usain Bolt, dem Rekordsprinter. Heinz-Willi Ritz hat mit dem Verkauf von Bolt nichts zu tun, aber er ist der, der mit dem Verkaufen anfing: der Erste, der Tauben von Europa nach Asien brachte.

So beginnt mit Heinz-Willi Ritz und seinen Tauben eine Geschichte, die keine verstaubte Erzählung über ein altes Hobby in einem alten Deutschland ist. Sie spielt nicht nur in Orten wie Jüchen, und ihre Protagonisten sind nicht nur alte Züchter, es sind junge Unternehmer aus Belgien und Superreiche aus China. Sie machen die Geschichte zu einer modernen, zu einer, in der sich zeigt, wie die europäische Taube, so wunderlich es sein mag, ein Produkt des Weltmarkts wurde. Salopp gesagt: Die Brieftaube machte Karriere – sie hob ab. Wie das kam, wird hier erzählt, es beginnt ganz bodenständig, bei Heinz-Willi Ritz in Jüchen.

Ritz ist Kaufmann, gelernter, aber keiner, der um die Welt reiste. Gemeinsam mit Inge hatte er einen kleinen Lebensmittelladen im Dorf. Er stand nachts auf, fuhr auf den Großmarkt nach Düsseldorf, fuhr zurück zu den Tauben, gab ihnen zu essen, ließ sie ihre Runden fliegen, ging in den Laden und nach Feierabend in den Taubenschlag, wieder ließ er sie fliegen. Sie trainierten für das Wochenende, denn die Wochenenden, jedenfalls die von April bis September, gehörten den Tauben, schon immer. An Urlaub ist da nicht zu denken.

An Wochenenden ist es seit Jahrzehnten bei Heinz-Willi und Inge Ritz wie an diesem Samstag, 13. Juni 2015, Flugtag, Strecke: 560 Kilometer. Es regnet, kein gutes Flugwetter, Wind von Nord, Nordwest. Rückenwind haben die Tauben erst ab Aachen, das hat Ritz gleich in der Früh im Internet nachgeschaut. Nun sitzt er in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa, trägt Socken in Sandalen, Jeans, kariertes Hemd. Auf dem Tisch liegen die Zeitschrift Die Brieftaube und Inges Strickzeug.

 

„Tauben, dat ist wie Sucht, wie Hasch“

Heinz-Willi Ritz schaut aus dem Fenster in seinen Garten, links ein Teich, rechts der Schlag. Er wartet. 26 seiner Tauben hat er eingesetzt: So nennt man das, wenn er, wie die anderen Mitglieder auch, sie zu seiner Reisevereinigung bringt, der RV Grevenbroich. Alle Tauben werden dann zusammen in einem Wagen weggebracht, an diesem Wochenende nach Blois, in eine Kleinstadt im Loiretal.

Ritz schaltet den Fernseher ein, WDR, Videotext, Seite 631, dort kann er sehen, wann die Tauben aufgelassen wurden: So nennt man das, wenn der Wagen geöffnet wird und die Tauben herausfliegen. 70 bis 90 Kilometer schaffen sie in der Stunde, mit Rückenwind gar 120. Über französische Städte und Dörfer fliegen sie, über belgische Städte und Dörfer, jede Taube zurück in ihren Schlag, zurück zum Weibchen, von dem sie getrennt war.

Ganz gleich, wo man eine Brieftaube aussetzt, sie orientiert sich und fliegt Hunderte Kilometer weit nach Hause, immer zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist. Wie sie das macht, konnte noch keiner erklären, sie richtet sich wohl nach der Sonne und dem Magnetfeld der Erde. So überbrachte sie einst Botschaften der Liebe, von König Salomon an die Königin Saba, Nachrichten von der Front oder vom Fußballplatz die Halbzeitergebnisse. 1818 gab es in Belgien die ersten Taubenwettflüge, der erste große Wettbewerb war von Toulouse nach Brüssel. Rennpferd des kleinen Mannes nannte man die Brieftaube lange, das Rennpferd der Männer im Bergwerk. Staubig und verdreckt kamen sie von der Arbeit, hatten stundenlang ins Dunkel geschaut, gingen zu ihren Tauben, ließen sie fliegen, schauten in den Himmel. Es war Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, die meisten Vereine gab es im Ruhrgebiet, Ewig treu die Alten, Fürs Vaterland, so hießen sie, und die Züchter hießen Kumpel Karl und Taumvatter Jupp. Sie malochten unter Tage, und dann ließen sie die Tauben am Himmel malochen. Der Mann ruhte und wartete auf seine Taube, die nach Hause flog.

„Dieser Moment“, sagt Heinz-Willi, „wenn eine in der Luft ist“, und stockt.

„Dann geht sein Herz auf“, spricht Inge weiter.

„Dann ist man wie versteinert vor Freude“, sagt Heinz-Willi, „du pflegst sie, du ziehst sie groß, du bereitest sie vor, dann lässt du sie los.“

Sachte, sanfte Worte, als spräche er von einem Kind, aber er meint ja seine Tauben, wenn sie nach Hunderten von Kilometern genau über dem Haus aus den Wolken rauskommen: „Dat ist ein Moment, dat kann man nicht beschreiben. Dat ist die Lieb.“

Inge steht in der Küche, kurz vor eins ist es. Um 7.55 Uhr sind die Tauben aufgelassen worden. Heinz-Willi steht nun vom Sofa auf. „Gleich fallen die Ersten“, sagt er, „ich hol schon mal das Funkgerät.“ Er kommt wieder und hält einen Kasten in den Händen, Grundig CBH 2000. „Das hatte ich schon immer, oder Inge? 40 Jahre vielleicht?“ Letztens jedenfalls war das Gerät bei der Reparatur. Er stellt es neben den Herd, nimmt das Mikrofon und sagt: „Klaus, bitte melden.“ – „Ja“, sagt Klaus, und außer Klaus hört man viel Rauschen. Heinz-Willi: „Wenn du bei den anderen was hörst, Klaus, funkst du durch, ja?“

Heinz-Willi schaut in den Himmel, etwas Sonne jetzt, Inge deckt auf der Terrasse den Tisch. Sie bringt Schnitzel, Blumenkohl, Kartoffelgratin, Gurkensalat, und aus dem Funkgerät kommt: „Erste Taube!“ – „Verstanden“, sagt Ritz und schaut in den Himmel. Erst ist da ein Punkt, der größer wird und größer, bald über ihm kreist, Heinz-Willi Ritz ruft: „Komm, komm, komm, komm, komm.“ Die Taube segelt herab, hinein in den Schlag. „Erste Taube da, kannst du melden, Inge.“ Inge sitzt auf der Terrasse und sagt: „Das ist jetzt schlecht getimt mit dem Essen.“ Heinz-Willi kommt an den Tisch, nimmt Messer und Gabel und guckt nicht auf den Teller, nur in die Luft, Kopf in den Nacken, ein Punkt am Himmel, Kreisen, er ruft: „Komm, komm, komm.“ – „Das ist der Nervenkitzel“, sagt Inge, „wie beim Lotteriespiel.“

Um Geld geht es aber nicht, Geld kann Ritz keines gewinnen, am Ende der Saison gibt es Pokale, aber selbst davon möchte Ritz keinen mehr haben. Er hatte so viele, dass er seiner Schwester welche gab, die mit Behinderten arbeitet, die halten die Pokale in Ehren, sagt er, was soll er damit noch machen, er hatte sie alle in den Keller gestellt.

Worum es geht: um Altehrwürdiges. Um Kameradschaft, Disziplin, um Sehnsucht und um Heimattreue. Die Taube, die in die Ferne geschickt wird, kommt zurück. Es gab eine Zeit, da passte sie in dieses Land. Sie gab Halt nach Jahren des Krieges, in denen alles haltlos gewesen war.

Die Brieftaube ist eine Haustaube, keine dieser Stadttauben, die man auch Ratten der Lüfte nennt. Die Brieftauben nennt man Athleten der Lüfte. Für sie gibt es Vitaminkapseln, Augen- und Nasentropfen, Kräuteröle Atemfrei, Elektrolyte mit Aminosäuren, Knoblauchöl mit viel Vitamin E: positiv für die Fruchtbarkeit und verdauungsfördernd, Badesalz für ein weiches Federkleid, es entfernt Hautschuppen und entspannt die Muskeln. Früher gab es für die Flugtage Taubenuhren, bei denen die Ankunftszeit aufs Papier gelocht wurde, heute tragen die Tauben am Fuß einen Chip, bald soll der Züchter den Flug seiner Taube auf dem Tablet verfolgen können. Bei einigen wenigen Flügen gibt es auch mehr als Pokale zu gewinnen, beim Nordseerennen auf Sylt bekommt der, dessen Taube Erste wird, einen BMW Z4 oder 30.000 Euro.

Es ist nur so: Selbst wenn sich die Branche alle Mühe gibt, es scheint, die Brieftaube passt nicht mehr in das Land. Taubensport ist Seniorensport, die Hälfte der Züchter ist zwischen 55 und 75 Jahre alt, ein Viertel noch älter. Spricht man mit Züchtern, fallen immer Sätze, die mit „früher“ beginnen.

Früher, als er ein kleiner Junge war, erzählt ein Mann auf der Brieftauben-Messe in Dortmund, legte er ein Foto von Heinz-Willi Ritz aus der Brieftaubenzeitung unter sein Kopfkissen, schlief ein und träumte davon, ihn zu treffen.

Früher, in den Sechzigern, gab es 103.000 Züchter in Westdeutschland, heute sind es 36.000 im ganzen Land.

Früher gab es in Jüchen über hundert Taubenzüchter, heute sind es vier.

Früher, erzählt Inge, während Heinz-Willi durch den Garten läuft und in den Himmel schaut, hatten sie immer Zuschauer auf der Terrasse.

Früher, als seine Tauben so erfolgreich flogen, begann Ritz, nach Asien zu fliegen. Er holt einen Aktenordner, darauf steht: „China-Reisen“, er holt Bücher mit chinesischen Zeichen und Bildern von Tauben, blättert und sucht seinen Namen darin, nicht so einfach, wenn alles auf Chinesisch ist.

Früher, das war 1978: Ein Thailänder, ein wohlhabender Diamantenhändler, war auf Geschäftsreise in Deutschland, er kam bei Ritz vorbei, kaufte ein paar Tauben, und zurück in Asien, erzählte er vom Taubenzüchter aus Deutschland. Bald darauf verkaufte Ritz eine seiner besten Tauben nach Taiwan. Sie wurde nur noch für die Zucht eingesetzt, und weil ihre Nachkommen auch dort die Schnellsten waren, wollten sie bald alle Ritz-Tauben haben. Es waren die Ritz-Tauben, die es am besten über die Berge auf der Insel schafften, die über die Berge kletterten, wie sie es nannten.

Bald wussten sie davon auch in China. In seinem Ordner hat Ritz Berichte und Bilder von seinen Reisen gesammelt: Er auf der Taubenmesse in China, er vor einem Taubenschlag in China, er in einer chinesischen Zeitung. Mehr als 30-mal war Ritz in Asien, oft wurde er eingeladen von reichen Taubenzüchtern.

Anfangs, erzählt er, musste er so viele Autogramme schreiben, dass er Muskelkater bekam.

In Thailand, erzählt er, sagte er jemandem, auf welche Taube er setzen sollte, dann war es ausgerechnet die, die gewann.

In China, erzählt er, besichtigte er einen Schlag und sah sofort, dass eine krank war, sie hätte alle anderen angesteckt.

„Ich guck immer nach dem Auge“, sagt Ritz, „da muss Glanz drin sein, wie beim Menschen. Hat ein Mensch trübe Augen, stimmt auch was nicht. In den Augen sieht man, welche die Schlaueste ist.“

Früher ist für Heinz-Willi Ritz heute vorbei. Er plant nicht mehr, nach Asien zu reisen. Das tun nun andere, denn Ritz ist längst nicht mehr der Einzige aus Europa, der Tauben nach Asien verkauft. Inzwischen klingelt bei vielen Züchtern das Telefon, die im Vergleich zur nationalen und internationalen Konkurrenz schnelle Tauben haben. Ein Vermittler ist dran, der erzählt, dass es in Asien Interessenten gebe. Das Geschäft wird dann oft etwas schmutzig.

Einige Händler sprechen nicht gern darüber, wie die Taube nach China kommt. Dort sind die Einfuhrgebühren sehr hoch, und viele versuchen, sie zu umgehen. Der Preis der Rekordtaube Bolt wurde vor zwei Jahren mit 99 Euro angegeben, dabei war sie das 3.000-Fache wert.

Einige Züchter sprechen nicht gern darüber, was sie verkauft haben, denn bei anderen war es so, dass es jemand mitbekam und sich bald darauf das Finanzamt meldete. Ein Deutscher, der nur von seinen Tauben lebt, musste 500.000 Euro nachzahlen, erzählt man sich.

Ritz klappt die chinesischen Bücher zu. „Alte Zeit“, sagt er. „Aber es ist doch dein Leben“, sagt Inge. „Einen Tag keine Taube in der Hand, das will ich mir nicht vorstellen“, sagt Ritz, „Tauben, dat ist wie Sucht, wie Hasch.“

Es war ein bisschen Zufall, ein bisschen Glück, dass ausgerechnet Heinz-Willi Ritz, Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens im Rheinland, die Taube in Asien bekannt machte und dazu beitrug, dass sie dort das wurde, was sie hierzulande nicht mehr ist: begehrt. Die Geschichte über den Aufstieg der Brieftaube ist eine Erzählung darüber, wie eine Tradition an ihrem Ursprungsort verloren geht und in einem neuen Markt neue Macht erlangt. So geschah es, dass ein altehrwürdiges Hobby nicht mehr nur alt erscheint. Dass es nicht mehr vor allem Hobby ist, sondern Geschäft.

Die Taube, einst das Rennpferd des kleinen Mannes, ist immer noch Rennpferd – eines Mannes allerdings, der mit ihr Millionen gewinnen kann.

„Am Anfang haben sie mich ausgelacht“, sagt Nikolaas Gyselbrecht, Gründer von Pigeon Paradise, einem Auktionsunternehmen für Brieftauben, „Geld verdienten wir die ersten Jahre nicht.“ Inzwischen hat er mehrere Angestellte: 18 in Belgien, zehn in Taiwan und in China und freie Agenten in Südafrika, Mexiko, Irak, Amerika und vielen Ländern Europas.

Gyselbrecht ist Belgier, 35, ein ruhiger Typ mit randloser Brille, sehr unauffällig. Auf dem Hof steht sein BMW, in der Hand das Smartphone, ein Geschäftsmann auf seine eigene Art: Bei Terminen trägt er gern Shorts und Sandalen. Gyselbrecht wohnt in Knesselare, einer unauffälligen Kleinstadt bei Gent, in der sein Unternehmen sitzt, das zu einer weltweiten Versteigerungsplattform wurde, ein eBay für Brieftauben.

 

Der Taubenbroker

Pigeon Paradise liegt versteckt hinter einer Hecke, in einer ruhigen Siedlung mit Einfamilienhäusern, viel Feld drum herum, am Eingang des Hauses ein Schild: „Pigeons from paradise, available on earth“. Tritt man ein, blickt man auf sieben Bilder von Tauben, alle gerahmt, es sind die teuersten Tauben, die sie bislang verkauft haben. Ike: 250.000 Euro, Dolce Vita: 250.400 Euro und in der Mitte Bolt: 310.000 Euro. Eine steile, schmale Holztreppe führt in den ersten Stock zu den Büros mit Dachschräge. Der Sitz des Unternehmens Pigeon Paradise war einmal ein Taubenschlag.

Gyselbrechts Urgroßvater, beide Großväter, drei Onkel und sein Vater hatten Tauben. Für sie war es ein Hobby, und selbst für Gyselbrecht war es noch eines, als er vor zwölf Jahren seinen Vater fragte, ob er ihm eine Taube geben könne, er wolle versuchen, sie im Internet zu verkaufen. Gyselbrecht hatte Wirtschaft studiert und gerade seinen Abschluss gemacht. Er stellte ein Foto von der Taube ins Netz, ein Engländer zahlte 350 Euro. Er probierte es weiter: Versteigerung von vier jungen Tauben, je 50 Euro Startpreis. Ein Amerikaner wollte alle vier für 2.000 Euro kaufen. Als der Anruf kam, war Gyselbrecht gerade mit seiner Frau bei Ikea einkaufen. Er ahnte, dass er sich mit dieser Sache nicht lächerlich machen würde. Er wurde zum Taubenbroker.

Fragt man Gyselbrecht, was eine gute Taube ausmacht, ruft er einen seiner Geschäftspartner, der das besser erklären kann. Fragt man ihn, was ihn bei seinem Taubengeschäft antreibt, dann holt er sein Handy und zitiert aus der Rede von Steve Jobs, die der Apple-Gründer in Stanford hielt. Dreihundert Mal, sagt Gyselbrecht, habe er sie schon gelesen, einmal zeigte er sie einer Freundin: Einen guten Job bei IBM hatte sie, liebte aber Yoga, nun lebt sie von Yoga. Life-changing sei die Rede. Jobs ermahnt, jeden Tag so zu leben, als sei es der letzte: „You’ve got to find what you love“ – mach das, was du liebst.

Mehr als die Taube liebt Gyselbrecht das Geschäft mit der Taube. An jeder, die über Pigeon Paradise verkauft wird, verdient er um die 35 Prozent des Preises. Mehr als Apple an Verkäufen bei iTunes.

Untereinander handeln Taubenzüchter seit Jahrzehnten mit ihren Tauben, sie machen das, um neue Paare für den Nachwuchs zu finden, um neues Blut in den Schlag zu bekommen. Gyselbrecht und Pigeon Paradise handeln mit Tauben, um die Geschichte von etwas fortzuführen, das fast zu Ende erzählt schien.

Er will sich nicht selbst loben, das müssten andere machen, sagt Gyselbrecht und erzählt von einem anderen, der auf Facebook geschrieben habe: Dieser junge Mann ist für den Taubensport das, was Henry Ford für die Autoindustrie war und Bill Gates für die Computerbranche.

Eine Taube aus dem Internet, lachten die Züchter anfangs, eine Taube muss man doch anfassen, muss man fühlen. „Eine Taube muss sein wie aus einem Guss“, sagt Heinz-Willi Ritz, „der erste Griff ist der wichtigste, dann fällt die Entscheidung, ob schlechte Taube oder gute Taube.“

Gyselbrecht wollte für Pigeon Paradise nur die guten. Er fuhr zu den Züchtern, deren Tauben jahrelang am besten geflogen waren, und bat darum, ihre besten zu bekommen. Er versprach, dass eine Taube mit vielen Auszeichnungen auf seiner Auktionswebsite einen höheren Preis erzielen werde, als wenn der Züchter sie selbst oder über einen Offline-Vermittler verkaufen würde. Er versprach etwas, was er nicht wissen konnte, aber Gyselbrecht sollte recht behalten. Die Preise stiegen, die Bieter kamen aus Südafrika, aus Kanada, aus China.

Gyselbrecht vereinbarte mit einigen Züchtern, dass ihre Tauben nur bei ihm angeboten werden. Durch die Namen der Züchter wurde Pigeon Paradise selbst zu einem bekannten Namen. Einige ließen in einer einzigen Auktion ihren gesamten Taubenschlag über die Website versteigern. Ein Belgier bot seine 530 Tauben an. Die billigste kostete 425 Euro, die teuerste war Bolt, 310.000 Euro – Gesamteinnahmen der Auktion: 4,3 Millionen Euro.

Eine Taube erscheint nicht mehr nur als eine tolle Taube, weil sie gut und schnell und am schlauesten fliegt. Eine Taube ist nun auch eine tolle Taube, weil sie viel wert ist. Auf Pigeon Paradise kann jeder sehen wie viel.

Es gibt Züchter in Deutschland, die kennen Pigeon Paradise gar nicht. Ihre Brieftaube bleibt ihre Brieftaube. Sie verkaufen sie mal für einen Fünfziger oder einen Hunderter, lassen sie fliegen in ihrem Verein, gehen am Samstag ins Vereinshaus, trinken ein Bier, und war es gut, was die Taube machte, bekommen sie Urkunde und Pokal.

Es gibt Züchter, denen gefällt nicht, was Pigeon Paradise macht, weil aus ihrem Hobby ein Geschäft geworden ist und sie nicht glauben können, dass die Preise für Tauben immer höher gehen, und sie sich fragen, ob nicht auch welche mitbieten, nur um den Preis nach oben zu treiben.

Es gibt Züchter, die sagen, so wie Pigeon Paradise den Sport sieht, darf der kleine Mann bald nicht mehr mitspielen – zu hoch, die Preise.

Es gibt aber auch Züchter, denen gefällt, was Pigeon Paradise macht, gerade weil sie mit ihrem Hobby Geld machen können – so hoch, die Preise.

Vor allem die Chinesen zahlen. 300.000 Züchter soll es in China geben, 700 Chinesen haben in den letzten vier Jahren bei Pigeon Paradise Tauben gekauft. Das sind nicht viele, aber viele von ihnen haben sehr viel Geld. „Wenn kein Geld aus China im Spiel wäre, würden wir als Firma vielleicht nicht existieren, das ist unser Motor, der alles am Laufen hält“, sagt Gyselbrecht. Mit den Kunden in China macht er die Hälfte seines Umsatzes. In einem Jahr lag er schon einmal bei 21 Millionen Euro, im vergangenen bei 12 Millionen. Der Umsatz hängt davon ab, welche Tauben Gyselbrecht für seine Auktionen bekommt – ob der Züchter einen Namen hat oder seine Taube etwas vorzuweisen: Erfolge im Fliegen oder erfolgreiche Vorfahren. Und auch davon, ob es Gyselbrecht gelingt, die Taube und ihren Züchter so anzupreisen, dass man das Tier unbedingt haben will.

Vor Kurzem hatten sie eine Versteigerung, die sie „Best of Germany“ nannten: „Deutsche Spitzenzüchter“ boten die „Perlen ihres Schlages“ an, hieß es auf Pigeon Paradise. Bei anderen Auktionen nannten sie Tauben „echte Sammlerstücke“, „Spitzenflieger“, „Superstars“ und einzelne Züchter ein „Phänomen“, ein „Monument im internationalen Taubensport“. Aus ein paar Superlativen entstehen Superstars.

Man kann nicht mehr sagen, dass es Glück oder Zufall war, dass ausgerechnet Nikolaas Gyselbrecht, ein belgischer Wirtschaftsstudent vom Land, mit seinem Unternehmen Pigeon Paradise die Brieftaube exquisiter machte und den Sport zu etwas Exklusivem. In China, wo die europäische Taube bereits eine Marke war, machte er Pigeon Paradise zu einer Marke. Bei Pigeon Paradise zu kaufen wurde für einige Reiche so chic wie bei Louis Vuitton zu kaufen.

Andreas Drapa trägt eine Armani-Jeans, und in der Hand hält er eine Ledertasche, auch Armani. Drapa ist 50 und wirkt wie ein alt gewordener Junge mit Halbglatze und grauem Haar. Er zeigt gern, was er hat, und über das, was er nicht zeigen kann, redet er gern: Zu Hause, in einer schwäbischen Kleinstadt, stünden sechs Autos, Mercedes-AMG S63, ein Porsche aus einer limitierten Edition. Drapa kann sie nicht zeigen, weil er nun 7.880 Kilometer entfernt ist, in Peking, am Rand der Stadt, in einem Gebäude, das aussieht wie ein riesiges Gewächshaus, in dem aber viele runde Tische stehen wie bei einer Gala.

Es ist die Siegerehrung des Pioneer Club, eines exklusiven Vereins, der das größte Taubenwettflugrennen in China veranstaltet. Groß heißt: Da ist das meiste Geld im Spiel. Jede Taube braucht, um starten zu dürfen, einen Ring am Bein. Er kostet, wie Teilnehmer erzählen, zwischen 1.000 und 3.000 Euro. Drapa ist jedes Jahr dabei, der bekannteste Deutsche, ein gern gesehener Gast in China.

Die Geschichte, die Andreas Drapa über sich erzählt, klingt ein bisschen nach Abenteuerroman – adventures of Andreas Drapa: Als Junge spielte er mit den Tauben bei den Großeltern, lernte Fliesenleger, hatte die Möglichkeit, zwei Profi-Fußballverträge zu unterschreiben, wollte aber lieber was anderes: Tauben. Er kaufte sich welche für 1.500, 2.000 D-Mark, als er sich das noch gar nicht leisten konnte, und zahlte sie über Monate ab. Inzwischen sind es die Tauben, durch die Andreas Drapa sich alles leisten kann. Er ist einer der ganz wenigen deutschen Brieftaubenzüchter, die allein von ihren Brieftauben leben können. Er müsse kaum arbeiten, nur zwei Monate im Jahr ein paar Geschäfte, sonst kümmere er sich um seine Tauben. Durch die Tauben habe er die Welt gesehen, sagt Drapa, Amerika, Dubai, und dann war er vor sieben Jahren in China, gab ein paar Tauben in eine Versteigerung und merkte: „Is net schlecht, in Asien kann man was mache.“ Er suchte sich Leute, mit denen er zusammenarbeitete, und baute sich als Marke auf. „Michael Schumacher des Taubensports“ stand in einem chinesischen Buch über ihn. Meine Tauben, sagt er, sind für die wie Adidas. Geht er auf die Taubenmesse in China, dauert es drei, vier Stunden, bis sie alles wegkaufen. „Bei mir isch scho teuer“, sagt Drapa, aber er kennt ja die Chinesen: „Manchmal denkscht, jetz isch Schluss, vom Geld, aber isch net. Die mache sisch keine Gedanke. Billige Taube nehme die gar net.“

Drapa ist eine seltsame Mischung aus „Ich bin hier der Bodenständigste“ und „Ich mach hier das fetteste Geschäft“.

Sein erster großer Sieger, erzählt er, hieß E.T. Seine besten im Schlag, auf die sich seine Erfolge gründen und sein Geschäft: Skyfighter, Pokerface, Aventador, Gesamtwert: 500.000 bis 600.000 Euro, schätzt Drapa, aber er würde sie niemals verkaufen. Und dann sind da noch: Messi, Kronprinz, Rihanna, Mona Lisa, Mr. Sauerland, Miss World. Hansi oder Fritz, sagt Drapa, kannst du die Tauben nicht nennen, wir gelten hier als die Besten der Besten, so müssen auch die Tauben heißen. Eine europäische Taube, das ist wie eine Gucci-Tasche.

Drapa. Wenn die Chinesen auf Marken stehen, in ihm haben sie eine gefunden.

Drapa. Sein Name wird aufgerufen, er geht über den roten Teppich auf die Bühne und setzt sich hinter einen langen Tisch, er wird gleich Preise für die Gewinner verleihen. Kurz zuvor erzählte er noch, dass es ihm ein bisschen peinlich sei, da oben zu sitzen, als Europäer neben all den Chinesen. Was man daran nicht für möglich hält: dass Drapa überhaupt irgendetwas peinlich sein könnte.

Eine Frau im glitzernden Abendkleid moderiert. Frauen in Kleidern, nicht glitzernd, bringen goldene Pokale, die Pokal um Pokal größer werden und auf deren Spitze eine Taube sitzt, auch golden. Von der Decke hängen Tauben und Wolken aus Pappe und das BMW-Emblem, auch aus Pappe. Einen BMW bekommt, wer auf die richtige Taube gesetzt hat, manche bekommen sogar einen Rolls-Royce. Es soll ein bisschen feierlich sein, das Treiben wirkt aber wie in einem Einkaufszentrum, niemand, der einen Pokal bekommt, strahlt, an den Tischen knacken die Zuschauer Pistazien und Erdnüsse, es gibt Reiswein und Tee.

Am Rand des Raumes sind 297 Käfige aufgebaut, in jedem eine Taube. Sie sind die Gewinner, man könnte auch sagen: Überlebensgewinner. 8.000 Tauben traten gegeneinander an, in vier Rennen, jeweils etwa 500 Kilometer lang. Es waren alles nur junge Tauben, nicht mal ein Jahr alt, älter dürfen sie nicht mehr starten. Anders als in Europa haben die Brieftauben in China nur eine Chance, zu zeigen, ob sie als Athleten taugen oder nicht. Die Tauben, die nicht zurückkommen, sind verloren. Sie wurden auf der Strecke mit Futter gelockt und gefangen, sie machten schlapp und starben, das Wetter war schlecht, und sie verirrten sich, Nebel – und sowieso viel Smog.

Unter diesen Bedingungen käme in Deutschland der Tierschutz, sagt ein deutscher Unternehmer, der in China ist, um Taubenmedikamente zu verkaufen.

Er sagt: Aber wenn es nicht mal Menschenrechte gibt, wer kümmert sich schon um Rechte von Brieftauben.

Er sagt: Taubensport hat in China doch keine Tradition wie bei uns.

Er sagt: Das ist für die nur Zockerei.

Früher, in den Sechzigern, Siebzigern, wurde im deutschen Taubensport auch etwas gezockt. Es wurde auf Tauben gewettet, ein paar D-Mark auf die, die als Erste zurückkam, 50 D-Mark vielleicht, 100 waren schon sehr viel.

„In China ist das eine Krankheit mit dem Wetten, daher sind die so taubensüchtig“, sagt Heinz-Willi Ritz, der Züchter aus dem Rheinland. „Chinesen haben Wetten in ihrem Blut“, sagt Luna Lai, die China-Agentin von Pigeon Paradise.

Eigentlich ist Wettspiel in China illegal.

Fragt man den Präsidenten des Pioneer Club, winkt er ab. Es gehe nicht ums Wetten, sagt er, es gehe nur um den Sport. Es gehe nur ums Wetten, sagen Europäer, die sich in China auskennen, sie sprechen von höheren Millionenbeträgen, die im Spiel seien, von Summen, die sich jedes Jahr erhöhen.

„Is scho a bissle a Lotterie“, sagt Andreas Drapa, der schwäbische Taubenzüchter.

Drapa wirkt ein bisschen stolz, dass er bei diesem exklusiven Rennen mitmacht, die Plätze sind unter reichen Chinesen sehr begehrt. Zugleich sagt er immer wieder: So was Verrücktes wie hier glaubt dir zu Hause keiner.

Er sitzt nun nicht mehr auf der Bühne, sondern davor an einem Tisch, knackt ein paar Nüsse und erzählt, es gebe mehrere Teilnehmer, die in den vergangenen Jahren bei den Rennen fünf Millionen Euro verloren hätten. Er habe immer gewonnen, dieses Jahr zum ersten Mal ein „kleines Minus“ gemacht, wie Drapa es formuliert. Was das heißt, sagt er nicht, und was er in den Jahren insgesamt gewonnen hat, auch nicht, er führe darüber kein Buch. Dieses Jahr kam nur eine seiner zwölf eingesetzten Tauben zurück. Sie war unter den Top 100, immerhin. Mit ihr wird er jetzt noch Geld verdienen, denn nach der Siegerehrung des Pioneer Club werden Tauben versteigert: all die 297, die zurückgekommen sind beim Rennen, und 26, die eine Delegation von Pigeon Paradise mitbrachte.

Das sind 323 Tauben, und Drapa muss lange warten, bis seine Taube im Käfig nach vorn gebracht und auf den roten Teppich gestellt wird. Als es nach drei Stunden so weit ist, sagt ein deutscher Kollege neben ihm: „Da kommt ja dem Drapa sein Schmetterling.“ Der Schmetterling geht für 80.000 Yuan weg, gut 11.000 Euro. Isch scho gut, sagt Drapa. Sofort wird die nächste Taube auf den roten Teppich gebracht, kein Aufsehen, kein Klatschen.

Drei Stunden später wird geklatscht, als der Saalboden einen neuen Teppich hat: aus Nussschalen, und viele Tische eine neue Dekoration haben: die ersteigerten Tauben in Pappkartons. Die letzten drei Tauben stehen vorn auf dem Treppchen, die Sieger des Rennens. Die Taube auf Platz 3 wird für 145.000 Euro ersteigert. Platz 2: 220.000 Euro. Platz 1: 250.000 Euro.

Für alle 297 Tauben des Rennens ist es nicht nur das Ende der Saison, sondern auch das Ende ihrer Sportlerkarriere. Man könnte sagen, sie gehen in Rente. Ganz aus der Verantwortung entlassen sind sie allerdings nicht. Zwar müssen sie nicht mehr fliegen, aber sie sollen für elitären Nachwuchs sorgen, der im nächsten Jahr beim Rennen des Pioneer Club startet.

Das Gelände des Pioneer Club gleicht einer amerikanischen Ranch. Das Eingangstor mit zwei griechischen Säulen, dazwischen ein Eisentor, ganz oben das Logo: ein roter Stern und in goldener Schrift Pioneer. Die Züchter mieten ihre gerade erst geschlüpften Tauben im Frühling in Schläge ein, neun gibt es, Klinkerbau, wie Einfamilienhäuser in einer Siedlung sehen sie aus. 120 Tauben in einem Haus, zwei Zimmer für die Tiere, dahinter zwei Zimmer für die Menschen. Während der Saison wohnen dort Schlagmanager, sie füttern, machen sauber, lassen die Tauben fliegen, Training für die Rennen.

Es sind nicht nur Reiche, die in China Tauben haben, aber es sind die Reichen, die in diesen exklusiven Clubs zusammenkommen, denn bei deren Rennen geht es um das große Geld. Ein Züchter nennt sich Great Wall, als Einziger leistet er sich einen Schlag allein für 120 Tauben. Great Wall heißt eigentlich Guo Weicheng, Mitgründer eines Pharmaziekonzerns. 2014 stand er auf der Forbes-Liste der reichsten Chinesen auf Platz 159, geschätztes Vermögen: 1,26 Milliarden US-Dollar. Great Wall will nicht reden. Und auch Xing Wei, ein anderer großer Teilnehmer des Rennens, will erst nicht. Dann sagt er doch zu, unter einer Bedingung: Es soll nicht ums große Geld gehen.

So geht es erst einmal um Ike. Ike, ganz nüchtern ausgedrückt, das ist der Vogel BELG 2008-4351119, und in einer anderen Zahl: 250.000 Euro Einkaufspreis. Ike, 2008 geboren in Belgien, seit 2010 wohnhaft in China. Wenn Xing über Ike spricht, dann klingt es einen Moment so sacht, als ob der deutsche Züchter Heinz-Willi Ritz seine Tauben begrüßt, so sanft, als spräche er von einer Liebe. Ein Bild von Ike hängt in Xings Firma für Immobilien und Projektentwicklung in Tangshan, zwei Autostunden von Peking. Ein Bild von Ike ist auch auf der Teekanne zu sehen, die auf dem Tisch eines Konferenzraums steht. An einem Ende des Tisches sitzt Xing, schmales Gesicht, schmale Gestalt, Beine übereinandergeschlagen. Er sagt, was zu erahnen war: „Ike ist meine Lieblingstaube.“ Er lächelt sehr höflich, er antwortet sehr knapp.

Herr Xing, warum mögen Sie Tauben so gern?

Das erzählt er gern länger: Er war ein kleiner Junge, fünf Jahre alt, als ein großes Erdbeben 1976 ganz Tangshan zerstörte, in den Trümmern sah er eine Taube. Er wollte sie unbedingt haben, bald darauf schenkte ihm der Nachbar eine. Ein Jahr hielt er sie im Hof, dann verschwand sie, vergessen habe er sie nie.

Inzwischen hat Xing fast 4.000 Tauben. Er ist einer der wichtigsten Kunden von Pigeon Paradise, den Brokern aus Belgien. Mehrere Millionen Euro hat er für europäische Tauben ausgegeben, er sucht sie nicht nur über das Internet aus, er reist auch für sie nach Europa. Man könnte meinen, bei so vielen Tauben, die schon von Europa nach China gekommen sind, würden keine mehr gebraucht. Aber die europäische Taube scheint etwas zu sein, von dem man nicht genug bekommen kann.

Xings Tauben wohnen da, wo in anderen Firmen die Chefs sitzen – in den obersten Stockwerken. Er muss sich nicht selbst um sie kümmern, das erledigen Schlagmanager, Xing kümmert sich um ein größeres Ziel: Er will aus den besten Stammbäumen Europas den besten Stammbaum Chinas schaffen. Er will mithilfe von europäischen Ikes einen chinesischen Ike schaffen. Ike ist eine Anlage.

Auf seinem Unternehmensgelände lässt Xing gerade ein neues Haus bauen. Es ist nicht für Menschen, nicht für Mitarbeiter, es ist für neue Tauben. 8.000 will Xing bald haben. „Tauben sind eine Schlüsselinvestition in die Zukunft“, sagt Xing, „der Taubenmarkt in China wird wachsen, ganz sicher.“

Vielleicht ist das Haus, das Xing baut, also doch für Mitarbeiter. Vielleicht zählt er seine Tauben bald zu seinen wichtigsten Angestellten.

Die europäische Brieftaube war einmal ein Symbol des Wirtschaftswunders, nun soll sie in China wirtschaftliche Wunder bewirken. Die Geschichte ihres Aufstiegs: Sie ist hier noch lange nicht zu Ende.

Quelle: Sonja Hartwig
DIE ZEIT Nr. 52/2015, 23. Dezember 2015

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